Literaturnobelpreis 1996: Wisława Szymborska

Literaturnobelpreis 1996: Wisława Szymborska
Literaturnobelpreis 1996: Wisława Szymborska
 
Die polnische Dichterin erhielt den Nobelpreis für ihr Werk, das ironisch-präzise den historischen und biologischen Zusammenhang in Fragmenten menschlicher Wirklichkeit hervortreten lässt.
 
 
Wisława Szymborska, * Kórnik (Posen, Polen) 2. 7. 1923; lebt seit 1931 in Krakau, 1945-48 Studium der polnischen Philologie und Soziologie, 1953-81 Rezensentin der Krakauer Wochenschrift »Zycie Literackie« (Literarisches Leben), bedeutende Übersetzerin französischer Lyrik, 1952 erster Lyrikband (»Deshalb leben wir«), mehrere bedeutende Preise, darunter 1991 Goethepreis der Stadt Frankfurt.
 
 Würdigung der preisgekrönten Leistung
 
Ihre Rede zur Annahme des Nobelpreises begann Wisława Szymborska mit der Feststellung, sie habe wenig über Lyrik gesagt oder geschrieben. Daraufhin versuchte sie, das Wesentliche an der Arbeit des Lyrikers zu benennen, den Zweifel: »Ich weiß nicht.« Während jeder andere Sprachbenutzer entweder etwas wisse oder nicht jedes Wort überdenke, sei für den Lyriker alles erstaunlich und unbeantwortet, kein Wort könne er stehen lassen.
 
 Naive Fragen
 
Wisława Szymborskas Werk stellt in erster Linie Fragen, am liebsten naive Fragen, wie es in der Begründung der Verleihung heißt. Das Nobelkomitee erkannte ausdrücklich an, dass solche Fragen subversiv wirken in einer zerstörerischen Zivilisation: »Es gibt keinen selbstkritischen Schakal«, wurde an dieser Stelle Szymborska zitiert. Vor der Verleihung hatte es Streit über die frühen Antworten der Lyrikerin gegeben. Vor der politischen Lockerung 1956/57 hatte Szymborska in zwei Gedichtbänden die Linie der polnischen kommunistischen Partei vertreten. In staatstreuer »engagierter Lyrik« verlieh die Dichterin ihrer Freude über das Ende des Zweiten Weltkriegs, den Wiederaufbau und den hoffnungsvollen sozialistischen Neubeginn Ausdruck. Inwieweit der Stil des sozialistischen Realismus und die leninistische Ideologie ihrer Überzeugung entsprachen, ist bis heute umstritten.
 
Die beiden frühen Bücher nimmt das Nobelkomitee vom preiswürdigen Werk aus. Sie sind für das Gesamtwerk Szymborskas in der Tat untypisch, weil sie Antworten liefern. Den Durchbruch als Lyrikerin erzielte sie erst 1957 mit dem Gedichtband »Wolanie do Yeti« (deutsch; Rufe an Yeti). Thematisch geht es nicht mehr um die gesellschaftlichen Probleme des Sozialismus, sondern um das Individuum und seine Position in der es umgebenden Welt.
 
 Einfachheit und philosophische Reflexion
 
Szymborskas Gedichte über den Ort des Individuums sind in einer einfachen, geradezu alltäglichen Sprache geschrieben. Die existenziellen Fragen sollen bewusst auf naive Weise gestellt werden. Tatsächlich aber setzt die Einfachheit ein hohes Maß an philosophischer Reflexion voraus. Wisława Szymborska schöpft aus einer intensiven Lektüre der Klassiker. Vor allem Heidegger und Sartre werden in vielen Gedichten mehr oder weniger direkt angesprochen, mit einfachen, klaren Worten. So ist ihre Lyrik jedermann verständlich, wenngleich sich erst durch die Erkundung der zugrunde liegenden Reflexion die ganze Breite und Tiefe des Gedankens enthüllt. Die Verbindung der Reflexion mit der Einfachheit erreicht Szymborska durch die Konzentration auf Bekanntes und Banales, das sie distanziert, ironisch und in einer gefeilten Sprache beleuchtet.
 
Der Satzbau der Gedichte Szymborskas ähnelt der der gehobenen Umgangs- und Prosasprache. Sie verwendet meist eine freie Metrik und selten Reime. Allerdings ist die Komposition streng und melodisch. In der Begründung des Nobelkomitees wurde Szymborska als »Mozart der Lyrik« bezeichnet, oft habe sie jedoch auch die »Wut Beethovens«. Ihre Sprache ist dem Gegenstand angepasst. Obgleich Szymborska einen eigenen, unverwechselbaren Stil entwickelt hat, gießt sie den Inhalt nicht in eine vorgefertigte Form, sondern modelliert die Sprache jedesmal neu.
 
Im Vergleich zu anderen Lyrikern hat Wisława Szymborska wenig geschrieben. Ihr Werk umfasst etwa 200 Gedichte. Ihre wichtigsten Gedichtbände sind: »Sól« (polnisch; Salz; 1962), »Hundert Freuden« (1967), »Wszelki wypadek« (polnisch; Alle Fälle; 1972), »Wielka liczba« (polnisch; Die große Zahl; 1976), »Ludzie na moscie« (polnisch; Menschen auf der Brücke; 1986) und »Koniec i pocztatek« (polnisch; Ende und Anfang; 1993).
 
Der Gegenstand von Szymborskas Gedichten lässt sich nicht abgrenzen, da sie stets neue Aspekte des menschlichen Daseins eröffnen, von den unmittelbarsten und alltäglichsten bis zu den abstraktesten und allgemeinsten. Ein oft wiederkehrendes Thema ist die Auffassung des Lebens als eine Negation des »Nichts«. In ihrem gleichnamigen Gedicht heißt es: »Das Nichts hat sich umgenichtet, auch für mich./Es drehte sich tatsächlich auf die andere Seite.«
 
Die Literaturkritiker diskutieren intensiv die Frage, inwieweit sich in Szymborskas Gedichten eine »weibliche Perspektive« offenbart. Zwar sind sie sich einig darüber, dass sie existiert, zur Frage aber, worin sie besteht und sich äußert, gibt es eine Vielzahl von Meinungen. Es ist jedoch festzuhalten, dass die Dichterin ihre Weiblichkeit eindeutig nicht zum zentralen Thema ihres Werks erhebt, sondern das Frausein in der heutigen Welt als eine Facette des Daseins beleuchtet.
 
 
Die gleichsam existenzialistische Auseinandersetzung mit der Situation des Menschen in Wisława Szymborskas Gedichten entspricht ihrer Lebensweise. Sie lebt sehr zurückgezogen. Sie führte nur eine kurze Ehe mit dem Schriftsteller Adam Wlodek und hat keine Kinder. Liebesgedichte spielen in ihrem Werk die gleiche Rolle wie alle anderen Gedichte. In ihnen offenbaren sich die Probleme des Daseins, sie drücken aber nicht seinen einzigen oder eigentlichen Sinn aus.
 
In vielen Gedichten beschäftigt sich Szymborska mit dem Schreiben selbst und spielt ihre eigene Arbeit selbstironisch herunter. Ihr Ziel scheint jedoch stets ein moralisches zu sein: ohne den Verweis auf transzendente Mächte oder irdische Autorität die Sensibilität des Lesers für die Kostbarkeit des Lebens zu wecken, über dessen Existenz man sich nicht genug wundern kann.
 
Berühmtheit und Bedeutung Szymborskas stehen in einem eigentümlichen Kontrast zu ihrem Leben und Werk. Sie hat viele der wichtigsten Auszeichnungen erhalten, ihre herausragende Bedeutung für die polnische Gegenwartsliteratur ist unumstritten, während Leben und Werk unter dem Zeichen des einsam reflektierenden und moralisch handelnden Individuums stehen.
 
B. Rehbein

Universal-Lexikon. 2012.

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